Ein guter Vorsatz für 2024: zu jedem gelesenen Buch einen Blog-Beitrag schreiben! „Glücklicherweise“ schaffe ich es nicht, so wahnsinnig viel zu lesen, denn sonst wäre dieses Vorhaben noch utopischer als es ohnehin schon ist. Zuletzt hat mich vor ein paar Tagen der Besuch der Marshall McLuhan Lecture 2024 von und mit Cory Doctorow nochmals motiviert, diesen Blog hier aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken (auch wenn es bei der Veranstaltung eigentlich im Kern um andere Themen ging als um Blogging/Self Publishing).
Gelesen habe ich auf Anraten der Buchhandlung meines Vertrauens „Homegoing“, den 2016 erschienenen Debütroman der US-amerikanisch-ghanaischen Autorin Yaa Gyasi. In fiktiven, aber historisch verorteten Episoden verfolgt der Text die Geschichte zweier Stränge derselben Familie über 200 Jahre hinweg, beginnend im 18. Jahrhundert in der Asante-Region auf den Gebiet des heutigen Ghanas, und endend in der USA der Gegenwart. Im Zentrum steht die Geschichte des westafrikanischen Sklavenhandels und der Sklaverei in den USA, deren Begleitumstände und deren traumatisierende Folgen, die bis heute nachwirken.
Ganze sieben Jahre hat Yaa Gyasi an ihrem Debüt recherchiert und geschrieben – und wurde dafür von der Kritik mit viel Lob belohnt. „Homegoing“ wurde vielfach übersetzt, und erschien 2017 auch in Deutschland unter dem Titel „Heimkehren“ in einer Übersetzung von Anette Grube.
„Homegoing“ ist viel mehr als „Heimkehren“
Ich habe den Roman im englischsprachigen Original gelesen – und erst beim Schreiben dieses Artikels wurde mir klar, dass die Bedeutung von „Homegoing“ vielschichtiger sein könnte als ursprünglich angenommen. In „Homegoing“ sah ich zunächst nur ein Pendant zum weit verbreiteten Begriff des „Homecoming“ – was mir vor allem im Zusammenhang des „Homecoming Game“ bekannt war, bei dem an US-amerikanischen High Schools und Colleges das erste Heimspiel der jeweiligen Football-Mannschaft zelebriert wird (mehr bei Wikipedia).
In „Homegoing“ sah ich die Richtung abgebildet, in der sich Marjorie und Marcus, die beiden Hauptfiguren aus dem letzten Teil des Buches, einem „Home“ annähern: Die beiden gehen fort aus den USA, nach Ghana, der „Heimat“ ihrer Vorfahren. Dies drückt auch eine nicht vorhandene Perspektive aus, denn in Ghana ist niemand mehr aus der Familie übrig, der Marjorie und Marcus erwarten und nach Hause kommen sehen würde. In dem „Going“ könnte sich sogar ein aktiver Suchprozess nach einem „Home“ verbergen, ein „Going after“, der einem „Coming“ fehlt.
„Heimkehren“ bringt diese Bewegungsrichtung nicht so wirklich zum Ausdruck. Die Prozesshaftigkeit des „Homegoing“ ist zwar durch den Infinitiv bewahrt, jedoch schwingt in „Heimkehren“ eine „Rückkehr“ oder „Wiederkehr“ mit, die ich im englischen Original in der Form nicht entdecke. Völlig außen vor bleibt jedoch eine Bedeutungsebene von „Homegoing“, die mir bei der Lektüre überhaupt nicht bewusst war und sich mir auch nur durch etwas zufälliges Herumgooglen auftat:
A homegoing (or home-going) service is an African-American and Black-Canadian Christian funeral tradition marking the going home of the deceased to the Lord or to Heaven. It is a celebration that has become a vibrant part of African American and Black Canadian history and culture. […] The history of the homegoing service can be traced back to the arrival of African slaves in America. Early during the slave trade, slaves believed death meant their soul would return home to their native Africa. […] Their death rituals were jubilant, and it became one of the earliest forms of African American culture.
Aus „Homegoing“ auf Wikipedia
„Homegoing“ ist also nicht nur ein „Heimkehren“, sondern referenziert eine kulturelle Praxis, die im direkten Zusammenhang mit dem Kernthema des Buchs steht. Auch wenn im Text meines Erachtens nicht direkt auf diese Praxis Bezug genommen wird, so steckt in der Wahl des Originaltitels natürlich vielmehr, als die deutsche Übersetzung vermuten ließe. Einen Vorwurf an die Übersetzerin möchte ich daraus nicht stricken – wie hätte sie das auch in den deutschen Titel gießen sollen? Aber es hätte der deutschen Ausgabe ziemlich gut getan, wenn der Text im Anhang um eine entsprechende Erläuterung ergänzt worden wäre. Ich vermute mal, dass vielen US-amerikanischen Leser*innen der Verweis im Titel hingegen auch ohne Erklärung bewusst ist.
Das Cover: im Original yeh, die Übersetzung meh
Als im Design-Bereich arbeitender Mensch schaue ich mir immer auch die Gestaltung von Büchern etwas genauer an. Das Cover der englischsprachigen Taschenbuchausgabe wurde laut Klappentext von Joan Wong (Instagram/Website) gestaltet und illustriert – in sehr ansprechender und passender Weise, wie ich finde. Die Themen „Feuer“ und „Wasser“ finden sich wieder, die offenbar eigenes geschaffenen Illustrationen liefern zusammen mit der Farbgebung ein stimmungsvolles Bild. Die entgegengesetzte Ausrichtung der beiden illustrierten Frauköpfe deuten die unterschiedliche verlaufenden Geschichten der beiden Familienstränge an, ihre geschlossenen Augen können etwa als Verweis auf Schmerz, Trauer, und Sinnsuche gedeutet werden. Die typografische Gestaltung des Covers ist auch gelungen: Bei der Auswahl von Fonts, die eine Handschrift imitieren oder nachbilden, achte ich immer darauf, ob es alternative Zeichen für Buchstaben gibt, mit denen ein lebendiges und realistisches Schriftbild erzeugt werden kann. Bei welcher Handschrift würde denn auch ein Buchstabe exakt dem anderen gleichen? Hier wurde offensichtlich darauf geachtet. Auch der Textureffekt, der sich wie ein Zeichen der Abnutzung (oder gar Verbrennungsspuren?) über die Schrift legt, wurde offenbar individuell aufgebracht und ist nicht Teil der Schrift.
Etwas irritierend finde ich allerdings, dass sich an das matt und auf ungestrichenem Papier gedruckte Cover ein einseitig glänzend gedrucktes Blatt anschließt, das seitlich sogar hinter dem etwa 5 mm schmaleren Cover hervorscheint. Offenbar sollen mit diesem Kniff potenzielle Käufer*innen schnell auf diese Sonderseite finden, die einige Zitate aus Buchkritiken versammelt. Vorteil ist allerdings, dass nicht schon das Cover mit diesen Blurbs vollgeknallt werden musste, was ich zuletzt immer häufiger beobachtet habe. Interessant ist übrigens, dass ich online einige weitere Taschenbuchausgaben mit anderen Covern gefunden habe, die qualitativ allerdings stark von meiner Ausgabe abfallen, etwa hier und hier. Etwas schleierhaft, wie so etwas passiert, zumal es den Wiedererkennungswert doch stark schmälert.
Bei der Covergestaltung der deutschsprachigen Taschenausgabe, die von dem Kölner Designbüro Lübbeke Naumann Thoben besorgt wurde, passt für mich allerdings so gar nichts. Klar, Flammen und Wellen tauchen auch hier auf, aber wie? Dem Impressum entnehme ich, dass für die Illustration einfach zwei Stock-Motive zusammengeschmissen wurden: Mit den handgezeichnet aussehenden Wellen allein könnte ich leben, auch wenn sie einfach übereinander kopiert wurden, sodass in der Wiederholung die Illusion des Handgemachten wieder verloren geht. Mit dem Flammen-Icon im Zentrum des Covers kann ich mich jedoch gar nicht anfreunden. Damit werden nicht nur zwei Illustrationsstile unpassend kombiniert, das Icon ist einfach überstrapaziert und findet sich vermutlich auf jeder Sprühdose weltweit als Warnsymbol wieder. Im Titel „Heimkehren“ findet sich dann auch eine rugged aussehende Textur: Nur ist sie hier offenbar Teil des Fonts, sodass die drei großen „E“ einfach exakt gleich aussehen. Und, um noch spitzfindiger zu werden: Warum wird auf Cover und Backcover offenbar eine andere Serifenschriftart eingesetzt als die im Innenteil verwendete Goudy? Insgesamt vermisse ich hier mehr Feinschliff und Sensibilität – was mich etwas überrascht, da ich auf der Website von Lübbecke Naumann Thoben diverse Bookcover finde, die mich auf den ersten Blick überzeugen.
Fazit
So viel gelernt! Über die Anfänge der westafrikanischen Kolonialisierung, über den Sklavenhandel und seine Begleitumstände, seine Helfershelfer, die lokalen Sklavenfänger und -auslieferer, über die Sklaverei in den USA, über die Lebensumstände der (ehemaligen) Sklaven und ihrer Nachkommen auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei, und letztlich über die vielschichtigen Traumata, die bis heute nachwirken.
Insgesamt habe ich das Buch sehr gerne gelesen: Der Text liest sich flüssig, die Figuren sind plastisch und lebendig, die diversen Episoden bauen immer neue Spannungsbögen auf. Die Vielzahl der eingeführten Personen hat mich zum Teil ganz schön verwirrt, auch wenn die Geschichten der verschiedenen Generationen ziemlich geschickt miteinander verknüpft sind. Sehr oft musste ich den mitabgedruckten Stammbaum zu Rate ziehen. Die Geschichten der Protagonist*innen sind in den vergleichsweise kurzen Episoden keinesfalls auserzählt, sondern es bleiben ziemlich viele Leerstellen. Mitunter hätte ich mir gewünscht, noch mehr zu erfahren, doch da begann dann bereits die nächste Episode. Aber ich vermute mal ganz stark, dass die Autorin genau diesen Effekt bewirken wollte.
Einiges gelernt habe ich aber auch beim Schreiben dieses Artikels, vor allem über mögliche Bedeutungen des Buchtitels. Wenn ich mir andere Rezensionen über das Buch durchlese, so fühle ich mich fast genötigt, das Buch noch einmal zu lesen, denn mir scheint da doch einiges entgangen zu sein. Und zuletzt ist dann doch hilfreich, meine spontanen Gedanken zur Gestaltung auch in Worte zu packen.
„Homegoing“ von Yaa Gyasi, 320 Seiten, erschienen im Mai 2017 bei Vintage Books/Penguin Random House (ISBN 1101971061), erhältlich in deiner lokalen Buchhandlung oder hier.
Die Bildrechte an den Buchcovern liegen bei den jeweiligen Verlagen und Gestalter*innen. Meine Fotos davon dienen nur der Rezension und Dokumentation.
Wie hat dir das Buch gefallen? Kanntest du die Praxis des „Homegoing“? Welche Bedeutung haben Buchcover für dich? Schreib es gerne in die Kommentare!
Neu auf meinem Blog: „Lost in Translation?“, eine kurze Buchrezension und Designkritik des Romans „Homegoing“ von Yaa Gyasi – und ein Blick auf etwas, das in der deutschen Übersetzung verloren gegangen sein könnte. https://voneff.de/lost-in-translation-homegoing-von-yaa-gyasi/