Vor etwa drei Monaten wurde die Zöliakie unserer dreijährigen Tochter diagnostiziert. Mittlerweile haben wir uns halbwegs mit der neuen Situation arrangiert. Zeit für eine erste Bilanz.
1. Unser Kind macht es super. Und tut uns unendlich leid.
Wir hatten nach der Diagnose befürchtet, dass wir viele schwierige Situationen erleben werden. Vor allem, wenn wir mit anderen Kindern unterwegs sind und die natürlich nicht auf Bretzeln, Pizza und Bratwurst verzichten. Wie gemein, da jetzt nicht mehr mitessen zu dürfen. Aber nichts da: Ihre fortwährenden Bauchschmerzen hatten wohl nachhaltigen Eindruck bei unserer Tochter hinterlassen. Und so hat sie ganz schnell akzeptiert, dass sie irgendwie anders is(s)t als die anderen Kinder.
Bald schon hatte sie ein Bewusstsein entwickelt, Essensangebote kritisch zu hinterfragen. Eine Anekdote: Eine unwissende Bekannte bietet der Kindermeute auf dem Spielplatz Würstchen an. Unsere Tochter, größte Liebhaberin aller Wurstwaren, fragt selbständig nach: „Ist das Würstchen ohne Gluten?“ Und verzichtet freiwillig und ohne Protest, als die Wurstspenderin verneinen muss. Wie reif ist das denn?
Zuhause ist das glutenfreie Leben für uns eigentlich kein Problem. Unterwegs erfordert die Zöliakie Tupperdosen und Planung, sie nimmt uns ein wenig die Spontanität. Alles in allem: halb so wild. Jedoch: Unser Kind tut uns furchtbar leid. Nie wird sie einfach so mit ihren Freunden Pizza essen gehen können. Nie auf Reisen sich fremde Kulturen durch unbefangenes Essen erschließen können. Ihr Leben lang wird sie immer wieder mit Diätfehlern und Folgekrankheiten zu kämpfen haben. Und welche Kneipe führt schon glutenfreies Bier?
2. Wir haben unseren Haushalt komplett umgestellt.
In der ersten Wochen haben wir noch versucht, in unserem Haushalt glutenhaltiges und glutenfreies Essen parallel zu führen. Das war uns allerdings zu aufwendig und unsicher. Wenn man es auch nur ansatzweise konsequent versucht, muss man dafür vielen Dinge zweimal haben – etwa zwei Toaster, zwei Butterdosen, unterschiedliche Backformen und so weiter. Davon abgesehen muss man auch penibel darauf achten, dass keine Verunreinigungen enstehen, denn es reicht ja schon der kleinste Krümel. Und das versuche man mal an einem Frühstückstisch mit mehreren kleinen Kindern – so gut wie unmöglich und damit stressig.
3. Am meisten vermissen wir das Brot. Das heißt: Eigentlich vermissen wir nur das Brot.
Ja, es gibt natürlich glutenfreies Brot – etwas aus Maismehl, Reismehl, Buchweizenmehl und meistens einer Kombination aus diesen. Und manches ist gar nicht so schlecht – wenn man es toastet. Es kann jedoch mit dem Brot, dass wir vor der Umstellung aßen, kaum mithalten. Gleiches gilt für Brötchen, Croissants, Baguettes…
Alles andere lässt sich finden: glutenfreie Kekse, Kuchen, Gemüsebrühe, Mehl, Nudeln, Senf… selbst glutenfreie Pizza ist passabel.
4. Gluten is everywhere.
Rohrohrzucker? Speiseeis? Geriebener Käse? Lakritz? Trockenobst? Sushi? Wiener Würstchen? Risottoreis? Gluten lauert in viel zu vielen Lebensmitteln, in denen man es gar nicht vermutet. Also muss alles auf den Prüfstand.
Wenn es kein Nahrungsmittel ist, müssen glutenhaltige Bestandteile nicht einmal ausdrücklich ausgezeichnet werden. Knete, Kreide, Sonnencreme, Medikamente… Manchmal ist es fast zum wahnsinnig werden.
5. Die Lebensmittelkennzeichnung in Deutschland ist – gelinde gesagt – verwirrend.
Anmerkung vom 27.10.2021: Die nachfolgenden drei Absätze sind aus meiner heutigen Sicht nicht korrekt. Entscheidend ist letztendlich nur die Zutatenliste: Wenn dort glutenhaltige Zutaten vermerkt sind, ist das Produkt für Zöliakie-Betroffene ungeeignet. Der Spurenhinweis ist hingegen nicht aussagekräftig. Eine pragmatische Anleitung zur Lebensmittelkennzeichnung findet sich etwa hier beim „Zöliakie Austausch“.
Unsere damalige Verunsicherung ist aber beispielhaft dafür, dass die Lebensmittelkennzeichnung unzureichend ist und insbesondere auf Zöliakie-Betroffene mit frischer Diagnose sehr verwirrend sein kann.
Zunächst einmal muss in der Zutatenliste von Lebensmitteln nicht konkret stehen, dass sie Gluten enthalten – sondern lediglich die Zutat muss genannt sein. Also etwa: „Dinkel“. Aber das lässt sich ja lernen. Viel schlimmer ist – der Zusatz „Dieses Produkt kann Spuren von Gluten [und Milch und Eiern etc.] enthalten“ ist eine freiwillige Angabe! Das ist fatal – denn auch, wenn keine glutenhaltige Zutat verwendet wurde, können Lebensmittel Gluten enthalten, wenn etwa an einem Produktionsstandort auch glutenhaltige Lebensmittel produziert werden. Und diese minimalen Mengen reichen schon aus, um die Autoimmun-Reaktionen und die entsprechenden Symptome auszulösen.
Anders herum werden viele Lebensmittel glutenfrei hergestellt, sind jedoch nicht entsprechend ausgezeichnet, so dass wir uns hier nicht sicher sein können. Das bedeutet: Wir können eigentlich nur die verarbeiteten Produkte kaufen, die ausdrücklich als „glutenfrei“ markiert sind oder die in den unhandlichen Listen der Deutschen Gesellschaft für Zöliakie (DZG) aufgeführt werden.
Und es sind noch viele Fragen offen. Zum Beispiel: Wenn auf einem Produkt steht, dass es „Spuren von Soja“ enthalten kann und Gluten nicht erwähnt wird, können wir uns dann darauf verlassen, dass auch kein Gluten enthalten ist?
6. Unsere Freunde sind fantastisch.
Auf einmal haben unsere Freunde glutenfreie Snacks vorrätig, backen glutenfreie Kuchen und nehmen generell viel Rücksicht. Wir sind sehr dankbar!
7. Besser heute als vor zwanzig Jahren.
Es werden heute offenbar viel mehr glutenfreie Produkte als noch vor wenigen Jahren angeboten, fast in jedem Supermarkt findet sich zumindest eine kleine Auswahl. Es gibt zudem auch eine wachsende, wenn auch noch überschaubare Zahl glutenfreier Restaurants und Hotels. Das kann zum einen damit zusammenhängen, dass die Zahl der Diagnosen in Deutschland steigt und die Dunkelziffer der Betroffenen ohne Diagnose sinkt. Es kann aber auch damit zusammenhängen, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen aus (vermeintlichen) Gesundheitsgründen glutenfrei ernährt, obwohl sie nicht von Zöliakie oder einer Glutenunverträglichkeit betroffen sind. Glutenfreie Lebensmittel sind ein Wachstumsmarkt, was den Betroffenen sehr zugute kommt, denn mit dem Angebot wächst nicht nur die Verbreitung, sondern hoffentlich auch das Bewusstsein und das Verständnis für die Krankheit.
8. Die Diät wirkt. Wirkt die Diät?
Unabhängig voneinander hatten wir Eltern zwischenzeitlichg festgestellt: Unsere Tochter hat zugenommen. Vorher war sie immer die Dünnste ihrer Freunde, so konnten wir jetzt einen Anflug von Speck erkennen. Ein Anzeichen dafür, dass die strenge Diät wirkt.
Doch wenig später folgte die Ernüchterung: Hatte sie nicht zuletzt wieder vermehrt über Bauchschmerzen geklagt? Und warum hat sie seit einigen Tagen so wenig Appetit? Warum ist gerade jedes Essen ein Kampf? Hat sie sich heute in der Kita wegen eines Darm-Infekts übergeben, oder war das die Reaktion auf einen Diätfehler?
Wir sind sehr verunsichert und lassen einen Bluttest bei der Kinderärztin machen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Werte sind zwar zurückgegangen, aber nicht genug. Konkret: Der Wert von Gliadin-IgG-AK liegt bei 52.4 U/ml, der Wert für Transglutaminase IgA-AK bei 66.1 U/ml. Der Referenzbereich ist mit „<10.0“ angegeben. Und dies nach knapp drei Monaten vermeintlich glutenfreier Diät. Der Befund mahnt an: „Die Überprüfung der glutenfreien Diät wird empfohlen.“
Es geht also weiter – zuhause muss alles noch einmal auf den Prüfstand. Auch die kleinen glutenhaltigen Ausnahmen, die wir Eltern uns bis jetzt genehmigt haben, müssen wir unterlassen. Und vor allem müssen wir wohl stärker mit der Kita ins Gericht gehen. Es ist so unangenehm wie nötig, hier unbequem und kompromisslos zu sein. Mit uns und mit anderen.
9. Wir fühlen uns unsicher und allein – noch.
Wir fühlen uns nach wie vor sehr unsicher: Wie geht es unserer Tochter wirklich? Wirkt die Diät? Wird sie Langzeitfolgen davontragen? Wie wird sie ihr Leben mit der Krankheit gestalten? Uns sind noch viele Fragen offen und es gibt noch viel zu lernen.
Wir kennen bislang niemand anderen, der selbst Zöliakie hat oder dessen Kinder Zöliakie haben. Natürlich wissen wir, dass weltweit viele Millionen Menschen mit der Krankheit leben, und wir vermuten, dass sie auch gut mit der Krankheit leben können. Aber uns fehlt noch der persönliche Austausch mit Leuten in einer ähnlichen Situation. Vor allem für unsere Tochter: Es wäre schön, wenn Greta andere Kinder mit Zöliakie kennen lernen würde. Wir werden also versuchen, hierfür Anschluss zu finden – nicht nur über diesen Blog, sondern etwa auch über die Deutsche Gesellschaft für Zöliakie. Vielleicht wohnt ja auch ein/e Betroffene/r in unserer Nachbarschaft?
tl;dr (in 140 Zeichen)
Eine Zöliakie-Diagnose ist verunsichernd, aber kein Weltuntergang. Wir müssen noch viel lernen und uns mit anderen Betroffenen austauschen.
Alle Fotos: CC BY-SA 2.0
http://www.foodandnutrition.org/September-October-2015/From-Myth-to-Mystery-Gluten-Sensitivity/
Will keinen bekloppt machen aber da gibt es einige neue interessante Studien die sagen es ist nicht Gluten das die Problem auslöst.
Hallo Phil,
es ist wohl richtig, dass die sog. Glutensensitivität und ihre Therapieansätze nicht ganz unumstritten sind. In unserem Fall handelt es sich aber eindeutig um eine Zöliakie, und der von dir verlinkte Artikel stellt ja auch eingangs den einzigen wirklick wirksamen Therapieansatz fest:
Hey ! 🙂
Ich verstehe eure Unsicherheit und es ist klasse wie ihr es bisher zu meistern scheint.
Dass euch das Brot nicht schmeckt, verstehe ich gut.
Vielleicht probiert ihr es mal mit Selbstgebackenem? Das muss gar nicht kompliziert sein. Auch die Fertigbackmischungen sind nicht schlecht! Das Schwarzbrot von Bauckhof z.B.ist echt lecker!
Liebe Grüße
Hallo! Vielen Dank – und sorry für die späte Antwort! Danke für den Tipp, selber backen ist auf jeden Fall noch eine gute Option!